Am 8. Mai ist «Weltrotkreuztag». Das Schweizerische Rote Kreuz Kanton Aargau ist seit rund 130 Jahren eine wichtige Anlaufstelle für Menschen, die trotz Einschränkungen ein selbstbestimmtes Leben führen wollen und auf Unterstützung angewiesen sind. Gerade auch während der Corona-Pandemie steht das SRK mit viel Flexibilität und Kreativität älteren Menschen zuverlässig zur Seite. Geschäftsführerin Regula Kiechle über den Entlastungsdienst, Patientenverfügungen, eine immense Freiwilligenarbeit und leichten Mitgliederschwund.
Wieso braucht es das SRK im Kanton Aargau?
Regula Kiechle: Das SRK Kanton Aargau hilft überall dort, wo es Lücken in der Versorgung von verletzlichen, hilfsbedürftigen Menschen gibt: Dies kann eine Tagesstruktur für Menschen sein, die ihren Alltag nicht eigenständig bewältigen können, die aber in anderen Institutionen praktisch keinen Zugang finden, oder wofür niemand die Mitfinanzierung übernehmen will. Ein weiteres Beispiel ist die Nachwuchsförderung für Gesundheitspersonal, welche mit dem Lehrgang Pflegehelfer/-in SRK eine fundamentale Ausbildung in der Pflege und Betreuung sichert. Dies sind nur zwei von rund 20 Dienstleistungen rund um die Themen Entlastung, soziale Integration und Bildung. Während der Pandemie-Zeit ist auch seitens SRK viel Flexibilität und Kreativität gefordert.
Für wen ist das SRK erste Anlaufstelle?
Wir sind Anlaufstelle für Personen und deren Angehörigen in allen Lebensphasen, die aufgrund von Krankheit, Armut, Ausgrenzung oder Einsamkeit Hilfe benötigen. Menschen, die trotz ihrer persönlichen Belastung oder Einschränkung ein selbstbestimmtes Leben führen wollen und auf Hilfe von aussen angewiesen sind. So hilft zum Beispiel der Rotkreuz-Notruf auch Menschen nach einer Organtransplantation, damit sie ein mobiles Leben führen können, aber sich im Notfall auf ein absolut hochkarätiges Notrufsystem verlassen können und auch ihre Angehörigen beruhigt sind.
Gerade auch für ältere Menschen bietet das SRK Kanton Aargau Unterstützung. Wie sieht dies aus?
Auch während der Pandemie fahren Freiwillige unter der Rotkreuz-Flagge Menschen zu unaufschiebbaren medizinischen Behandlungen. Das Rote Kreuz Kanton Aargau bietet älteren Menschen Unterstützung, damit sie möglichst selbstbestimmt zu Hause im vertrauten Rahmen verbringen können. Die Entlastung der betreuenden Angehörigen ist uns sehr wichtig. Spezifisch ausgebildete Mitarbeiterinnen betreuen Menschen mit einer Demenzerkrankung oder der Fahrdienst gewährleistet, dass ältere Personen regelmässig zur Nierendialyse oder anderen Arzt- und Spitalterminen gefahren werden. Der Rotkreuz-Notruf bietet erwachsenen Personen mit erhöhtem Sicherheitsbedarf und deren Angehörigen Sicherheit rund um die Uhr.
Welchen Stellenwert haben die älteren Menschen in unserer Gesellschaft. Welche Erfahrungen machen Sie da?
Aufgrund der Corona-Pandemie erfahren Menschen in der dritten Lebenshälfte zu Recht viel Wertschätzung, Entgegenkommen und Hilfe aus der ganzen Bevölkerung. Ausserhalb solcher Ausnahmezeiten geniessen die aktiven, älteren Personen Respekt und man anerkennt sie als wichtige Gruppe in der Gesellschaft. Sie werden als Konsumenten umworben und ernst genommen. Sobald sie verletzlich und gebrechlich werden, ändert sich die Wahrnehmung dieser Menschen in der Gesellschaft rigoros. Es wird oftmals über sie bestimmt. Ihre Lebensqualität wird von Aussenstehenden bewertet. Gebrechlichkeit wird zum Parameter, ob ein Leben einen Wert hat oder nicht. Das tut mir weh. Als Rotes Kreuz stehen wir dafür ein, dass diese Menschen und ihre Angehörigen nicht allein gelassen werden. Derzeit erweitern wir den Rotkreuz-Entlastungsdienst. In vielen Privathäusern befinden sich pflegende Angehörigen am Limit ihrer Kräfte, weil sie während 24 Stunden an 365 Tagen im Einsatz sind und sich die Gesellschaft nicht für sie interessiert. Sie leisten eine immense Arbeit und werden dafür in keiner Weise entschädigt. Das muss sich definitiv ändern. Vor dieser Not inmitten unseres Kantons dürfen wir die Augen nicht verschliessen. Dafür stehe ich ein.
Was ist die Patientenverfügung SRK und wie rege wird sie benutzt?
Die Rotkreuz-Patientenverfügung und der Vorsorgeauftrag sorgen für den Fall vor, wenn ich aus gesundheitlichen Gründen die Entscheidungen nicht mehr selbst tätigen kann. So kann ich mich absichern, dass sowohl ein Behandlungsteam als auch die Behörden meinen persönlichen Willen kennen, weil ich im Voraus die mir wichtigen Themen konkret festgelegt habe. Ich habe auch eine Rotkreuz-Patientenverfügung. Die Rotkreuz-Patientenverfügung kann beim SRK hinterlegt werden und ist jederzeit online abrufbar. Die Rotkreuz-Patientenverfügung wird von etlichen Spitälern, Heimen und Ärzten empfohlen. Im Jahr 2019 führten wir 75 persönliche Beratungen durch.
Beim SRK Kanton Aargau arbeiten auch zahlreiche Freiwillige. Welchen Stellenwert hat ihre Arbeit?
Ohne die Rotkreuz-Freiwilligen gäbe es gar kein Rotes Kreuz. Sie stehen neben den Klienten im Mittelpunkt von allen Überlegungen und Entscheidungen. Die über 1000 Rotkreuz-Freiwilligen haben im 2019 157’000 Einsatzstunden geleistet. Das entspricht umgerechnet einem Gegenwert von 4.7 Millionen Franken, freiwillig geleisteter Arbeit. Im Jugendrotkreuz Kanton Aargau leisten gut 200 junge Menschen zwischen 15 und 30 Jahren Einsätze für die Mitmenschen. Pro Jahr wenden wir für die Freiwilligen 1.9 Millionen Franken auf. Zum einen ermög-lichen wir damit unseren Freiwilligen wichtige Weiterbildungen und garantieren damit qualitativ hochwertige Arbeit und zum anderen decken wir die Spesen unserer Freiwilligen.
Wieso ist die Anerkennung für die wertvolle Arbeit der betreuenden Angehörigen noch zu wenig gross?
Viele betreuende Angehörige gleiten langsam und sukzessive in diese Rolle. Der Aufwand wächst oft langsam, aber stetig und bestimmt mehr und mehr den Alltag. Es bleibt kaum noch Zeit, sich zu erholen oder Beziehungen ausser Haus zu pflegen. Sie sind isoliert und auf sich selbst gestellt. Es dreht sich alles um die kranke Person. Die Gesellschaft erwartet, dass sowohl Ehepartner, Kinder, Grosseltern ihre Angehörigen rund um die Uhr bei jeglichen Alltagsverrichtungen unterstützen, ihnen die finanziellen Angelegenheiten regeln, sie zum Arzt fahren, für sie Kleider kaufen, sie trösten, waschen, unterhalten und so weiter. Politisch wird das Thema wie eine heisse Kartoffel behandelt. Die betreuenden Angehörigen sparen uns jährlich Ausgaben für 80 Mrd. Arbeitsstunden, die gratis geleistet werden. Die Angehörigen sind zu absorbiert, sie sind abends zu müde, um noch einen Lobbying-Anlass zu besuchen oder Unterschriften für ihre Anliegen zu sammeln. Als Geschäftsführerin im Roten Kreuz nutze ich jede Gelegenheit, um bei Verantwortungsträgern im Kanton Aargau auf diesen Missstand hinzuweisen. Im Vergleich zu anderen Kantonen befindet sich der Aargau diesbezüglich eindeutig im Rückstand.
Hat das SRK Kanton Aargau für dieses Jahr spezielle Projekte?
Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie konzentrieren wir uns auf die Hilfestellungen für alle, die sich an uns wenden. Wir lancieren dieses Jahr das Projekt «Rotkreuz-Betreuerin». Es sind spezifisch ausgebildete Personen, die den Ausbau des Entlastungsdienstes zu Hause ermöglichen. Es geht hier nicht um eine Konkurrenz für die Spitex. Nein, die Rotkreuz-Betreuerin leistet konkrete Betreuungsarbeit im Alltag. Sie macht das, was sonst die Angehörigen rund um die Uhr für ihre Liebsten erledigen. Es ist ein arbeitsintensives und kostenintensives Projekt und ein Wagnis. Aber wir dürfen die Bedürftigen und ihre betreuenden Angehörigen nicht alleine lassen. Die Not ist zu gross. Nur darüber zu reden und die pflegenden Angehörigen zu loben, hilft ihnen rein gar nichts.
In welchen Bereichen ist das SRK Aargau speziell gefordert?
Wir haben im Roten Kreuz Kanton Aargau einen minimalen, aber stetigen Mitgliederschwund. Auf lange Frist bedeutet das, dass wir immer weniger Spenden haben, die wir für bedürftige Menschen aus dem Kanton einsetzen können. Jüngere Personen wollen eher keine Mitgliedschaft. Viele Menschen wollen gerne finanzielle Hilfe leisten, und sie schätzen unseren Einsatz vor Ort im Kanton. Ist man aber Mitglied beim SRK Kanton Aargau und zahlt treu regelmässig die 30 Franken Mitgliederbeitrag, so ist man für alle Rotkreuz-Freiwilligen und -Mitarbeiter auch eine grosse moralische Stütze. Die Hilfsorganisation kann dank treuen Mitgliedern sehr viel administrativen Aufwand sparen und die Mittel den Bedürftigen zukommen lassen. Derzeit fliessen von jedem Spenderfranken ganze 85 Rappen direkt in die Hilfeleistung.
Was wünschen Sie sich persönlich für das SRK Kanton Aargau?
Dass es uns gelingen wird, als Stimme für die Verletzlichen und deren Angehörigen im Aargau einzustehen und wir weiterhin einen Mehrwert für die Menschen im Aargau leisten können. Dass wir weiterhin so aufgestellte Rotkreuz- Freiwillige und Mitarbeitende haben, die sich mit Herzblut für die Bedürftigen engagieren und dass einmal an einem 8. Mai, dem «Weltrotkreuztag», im ganzen Kanton abertausende Rotkreuz-Fahnen wehen und somit dem grossen Rotkreuz-Gründer Henry Dunant und der Rotkreuz-Bewegung gedenken.
Interview: Corinne Remund
Das Schweizerische Rote Kreuz Kanton Aargau
Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) Kanton Aargau unterstützt benachteiligte und beeinträchtigte Menschen im Kanton. In den Bereichen Entlastung, soziale Integration und Bildung verhelfen rund 130 Mitarbeitende und über 1000 Freiwillige diesen Menschen zu mehr Selbstständigkeit, Sicherheit und Zugehörigkeit. Die breite Palette von Hilfsangeboten des SRK Kanton Aargau steht im Zeichen der Menschlichkeit und wird nach den Grundsätzen der Rotkreuz-Bewegung aktuellen Bedürfnissen angepasst und laufend weiterentwickelt. Das SRK Kanton Aargau finanziert sich hauptsächlich durch Erträge aus Dienstleistungen und Projekten sowie durch Mitgliederbeiträge und Spenden.
CR